Brahms, Bergedorf und die drei Punkte
Johannes Brahms, der am 7. Mai 1833 in Hamburg geboren wurde und am 3. April 1897 in Wien starb, war bereits zu Lebzeiten einer der bedeutendsten Komponisten der Klassik. Dass er eine besondere Beziehung zu seiner Vaterstadt hatte, ist Allgemeinwissen. Aber was hatte es mit Bergedorf auf sich? Die Redakteurin der HBZ (Hamburgische Zeitschrift für den öffentlichen Dienst) des VHSt (Vereins Hamburgischer Staatsbeamten r. V.) hat sich mit dessen Vereinsmitglied Horst Zapf (85), einem großen Brahmsverehrer, unterhalten. Der ehemalige Beamte in der Finanzbehörde hatte sich auf eine spannende Spurensuche begeben. Als 16-jähriger Verwaltungslehrling kam er schon in seiner ersten Ausbildungsstätte im Bezirksamt Bergedorf „offiziell“ mit klassischer Musik in Berührung, als er die Akten über die Bergedorfer Hasse-Gesellschaft und den berühmten Händelforscher Friedrich Chrysander (1826–1901) ordnen sollte. Sein Interesse an der Musik erhielt dadurch weiteren Auftrieb. Das Erlebnis einer beeindruckenden Aufführung des Violinkonzerts von Brahms in der Hamburger Musikhalle im selben Jahr machte ihn frühzeitig zu einem Bewunderer dieses Komponisten. Später, als Mitglied der Johannes-Brahms-Gesellschaft, befasste er sich eingehend mit dessen Leben und Werk.
Ein Highlight war für ihn die Anregung und Mitgestaltung des Bergedorfer Brahmsfestes 2008 in Erinnerung an die bisher bekannten Verbindungen des Meisters zu dem damals selbstständigen Städtchen: das mehrmalige spektakuläre Auftreten des 13-jährigen Brahms 1846 als Pianist vor Hamburger Sonntagsausflüglern in einem Gartenlokal am Bergedorfer Gehölz und – ab Mitte der 1870er-Jahre – die Besuche bei seinem Freund Chrysander, dessen Musikforschungen er engagiert unterstützte.
Das Rätsel der drei Punkte
Einer glücklichen Fügung ist es zu verdanken, dass im vergangenen Jahr ein weiterer, von der Forschung bisher nicht beachteter Brahmsaufenthalt in Bergedorf publik wurde: Zapf bekam von seinem Musikfreund Dr. Christoph Thiemann das Buch Johannes Brahms in seinen Schriften und Briefen von Richard Lütterscheid (Bernhard Hahnefeld Verlag, Berlin, 1943) geschenkt. Beim ersten Durchblättern stieß er auf ein Schreiben des Komponisten an die mit ihm eng befreundete berühmte Pianistin Clara Schumann (1819–1896) vom 28. August 1859, das mit den Worten begann:
„Deinen lieben Brief bekam ich gestern früh, herzliebe Clara, musste aber erst Stunde geben und dann nach Bergedorf …“
Die drei Punkte als Auslassungszeichen weckten Zapfs Forschungstrieb. Er begann zu recherchieren, was Brahms an jenem Tag wohl nach Bergedorf führte. Über die Robert-Schumann-Forschungsstelle in Düsseldorf fand er heraus, dass sich das Autograf des Briefes bei der Stiftung Preußischer Kulturbesitz der Staatsbibliothek zu Berlin befindet, die ihm eine Kopie zusandte. Der fragliche Satz indes war wegen Brahms’ undeutlicher Handschrift nur durch Schriftexperten zu enträtseln. Der Zufall wollte es, dass einer dieser Experten gerade im Brahms-Institut Lübeck anwesend war, als Horst Zapf anrief. Der ausgelassene Text lautete: „Ich hatte längst versprochen dort von Lind (Du kennst die Frau, glaube ich) zu besuchen.“ Dieser Satz erscheint auf den ersten Blick unspektakulär und wurde im Abdruck des Briefes einfach weggekürzt. Für Zapf allerdings war er eine Offenbarung, wurden doch nach seinen weiteren Nachforschungen mit Unterstützung vor allem durch die Genealogische Gesellschaft – Bibliothek Bergedorf – sowie des dortigen Kultur- und Geschichtskontors die Namen prominenter Persönlichkeiten jener Zeit in Erinnerung gerufen, von denen etliche zu Brahms’ Freundes- und Bekanntenkreis gehörten. Die von Brahms besuchte Hamburger Kaufmannsfamilie von Lind war gegen Ende der 1850er-Jahre in die Nähe des Bergedorfer Gehölzes gezogen. Gustav von Lind (1820–1881) hatte sich in den Kriegen von 1864, 1867 und 1870/71 durch sein großes Engagement als Mitglied und späterer Vorsitzender des Vereins zur Pflege im Felde Verwundeter und Kranker, dem Vorläufer des DRK in Hamburg, hervorgetan. Sein soziales Engagement, auch in Bergedorf, ist heute so gut wie unbekannt. Die Umstände seines Todes in der damals sogenannten Irren-Anstalt Friedrichsberg konnten bis bisher nicht aufgeklärt werden.
Des Rätsels Lösung:
Theodor Avé-Lallemant
Brahms’ Hauptinteresse galt fraglos Gustav von Linds Ehefrau Elisabeth (1826–1887), einer Tochter des seinerzeit weitbekannten Pastors Johann Wilhelm Rautenberg (1791–1865). Elisabeth von Lind, Brahms und die häufig in Hamburg aufgetretene Clara Schumann hatten einen gemeinsamen, von ihnen hochgeschätzten Bekannten: Theodor Avé-Lallemant (1806–1890) – von Brahms Avé genannt. Avé war mehrere Jahrzehnte lang Vorsitzender des Comités für die Philharmonischen Konzerte und prägte mit seinen Kontakten zu berühmten Komponisten und Virtuosen das Musikleben in Norddeutschland. Seine Ehe mit der sehr wohlhabenden, aus dem hanseatischen Großbürgertum stammenden Wilhelmine Jauch, einer Vorfahrin des Fernsehmoderators Günther Jauch, ermöglichte es ihm, sich ganz der Musik zu widmen. Er förderte Talente und betrieb eines der musikalischen Häuser in Hamburg, gelegen beim Hühnerposten nahe der Dreieinigkeitskirche St. Georg, an der Johann Wilhelm Rautenberg Pastor war.
Die Verbundenheit der Familien Rautenberg/von Lind, Schumann und Avé-Lallemant ist durch die Patenschaft der Pastorenehefrau Elisabeth Rautenberg für ein Kind Avés und die gemeinsame Patenschaft von Elisabeth von Lind und Robert Schumann (1810–1856) für ein weiteres Kind Avés bezeugt. Auch Johannes Brahms wurde, als 22-Jähriger, von Avé zum Paten eines seiner Kinder auserkoren. Schon damals war sich Avé sicher, dass Brahms einmal ein ganz Großer der Musik werden würde. Avé förderte den aufstrebenden Komponisten auf vielfältige Weise, u. a. durch die Schenkung wertvoller Musikliteratur sowie durch Aufführungsmöglichkeiten. Brahms revanchierte sich bei Avé durch Klavierspielen, wie im Jahr 1859 zum Beispiel durch den Vortrag der letzten Sonaten von Beethoven.
Ende 1862 ging die Freundschaft der beiden in die Brüche. Grund war, dass sich der von Brahms insgeheim gehegte Wunsch, zum Leiter der Philharmonischen Konzerte berufen zu werden, nicht erfüllte. Avé, der sich für seinen Freund durch eine vertrauliche Initiative eingesetzt hatte, wurde von ihm zu unrecht für das Scheitern seiner Berufung verantwortlich gemacht. Der gekränkte Brahms kehrte seiner Vaterstadt den Rücken und ging nach Wien, wo er 1868 sesshaft wurde und sich dort mit der Zeit zum weltberühmten Komponisten entwickelte, aber Hamburg im Herzen behielt.
Avé blieb bis zu seinem Tod auf seinem Vorstandsposten in Hamburg. Am Ende seines Lebens wurde ihm sogar noch eine besondere Ehre zuteil: Pjotr Iljitsch Tschaikowski (1840–1893) widmete ihm seine berühmte 5. Sinfonie. Zapf ist der Meinung, dass es der Musikstadt Hamburg gut anstünde, den heute vergessenen Theodor Avé-Lallemant mit einem Straßennamen zu ehren.
Rautenberg – Exponent der Hamburgischen Erweckungsbewegung
Eine Rautenbergstraße gibt es schon seit 1899 in St. Georg. Der Namensgeber ist jedoch ebenfalls in Vergessenheit geraten. Dabei war er im 19. Jahrhundert eine der markantesten Persönlichkeiten der hamburgischen Evangelischen Kirche, die damals von einem äußerst erbitterten theologischen Richtungskampf heimgesucht wurde. Dem in Hamburg dominierenden Rationalismus (Vernunftglaube) stand die Erweckungsbewegung gegenüber, die sich die Bibeltreue und Rückbesinnung auf den lutherischen Glauben auf ihre Fahnen geschrieben hatte. Rautenberg war ihr wortmächtiger Anführer. Seine treuen Mitstreiter waren insbesondere Senator Hudtwalker, Johann Hinrich Wichern, Heinrich Matthias Sengelmann, Amalie Sieveking und Elise Averdieck. Seine Gottesdienste bereicherte Rautenberg durch den Vortrag selbst gedichteter Kirchenlieder, von denen etliche später ins Evangelische Gesangbuch aufgenommen wurden. Die Rationalisten aber sangen damals statt des Kernliedes der Reformation „Ein feste Burg ist unser Gott“ das volkstümliche Lied „Üb’ immer Treu und Redlichkeit“. Rautenberg setzte sich vehement für die Wiederaufnahme der alten Lieder ein.
Rautenbergs soziale Großtat war, zusammen mit Johann Gerhard Oncken, die Gründung einer Sonntagsschule im Jahr 1825 nach englischem Vorbild in St. Georg. Hauptziele waren die Bekämpfung des Analphabetismus unter den armen und verwahrlosten Kindern und eine christliche Erziehung.
Die oben genannten Mitstreiter, waren bekannte Namen in unserer Stadt. Rautenberg dagegen ist im Hamburg Lexikon (2010) nur eine Randerscheinung und wird im Bergedorfer Personenlexikon (2003) nicht mal erwähnt, obwohl er in Moorfleet geboren wurde und aufwuchs. Treibende Kraft für seinen kirchlichen Lebensweg war seine Mutter, die in Curslack geborene Gesche Heitmann (1752–1827), die ihren Sohn, der das Orgelspiel vortrefflich beherrschte, einst gern als Kantor in Neuengamme gesehen hätte.
Auch ihm müsste nach Zapfs Auffassung ein angemessener Platz in den Geschichtsbüchern eingeräumt werden. Nächstes Jahr jährt sich Rautenbergs Geburtstag zum 230. Mal und der seines Schülers Heinrich Matthias Sengelmann (1821–1899), Gründer der Alsterdorfer Anstalten und einige Jahre Pastor in Moorfleet und dort begraben, zum 200. Mal. Ein gemeinsames Gedenken bietet sich geradezu an. Zum Abschluss kehren wir noch einmal in das Jahr 1951 zurück: da fanden erstmals Verhandlungen statt zwischen Berta Chrysander (1883–1960), der Schwiegertochter des Händelforschers und Hamburger Behördenvertretern. Es ging um den Verkauf der bedeutenden Musikbibliothek an die Hansestadt. Mit am Tisch saß Staatsrat a. D. Otto Rautenberg (1876–1961), ein Enkel des Pastors. Nicht für die Stadt, sondern für Frau Chrysander als persönlicher Berater und Testamentsvollstrecker des chrysanderische Erbes. Zapf wird damals den entsprechenden Aktenvermerk gelesen haben. Das er 70 Jahre später damit noch einmal befasst werden würde, hätte er sich nicht einmal im Traum vorstellen können.
Eine bunte, interessante Geschichte, verborgen hinter drei Punkten!
--------------------------------
Autorin: Samira Aikas, Hamburger Zeitschrift für den öffentlichen Dienst (HBZ), Verein Hamburgischer Staatsbeamten r. V. (VHSt) www.vhst.de
Quellen: „Auf nach Düppel" – erstmals Hilfe unter dem Zeichen des Roten Kreuzes, Die Wurzeln des Roten Kreuzes in Hamburg (AVM.edition, Deutsches Rotes Kreuz, von Volkmar Schön, 2019); „Sehnsucht habe ich immer nach Hamburg …“ Johannes Brahms und seine Vaterstadt, Legende und Wirklichkeit (Dialog-Verlag, von Kurt Hofmann, 2003); Johann Wilhelm Rautenberg, Ein Beitrag zur Hamburgischen Kirchengeschichte und zur Geschichte der Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts (Hans Christians Druckerei und Verlag, Hamburg, von Hans Lehmann, 1936); Die Familie Avé-Lallemant und ihre Töchternachkommen (Sonderdruck aus Deutsches Familienarchiv, Band 23, Verlag Degner & Co., Neustadt a. d. Aisch, 1963); Lichtwark, Ausgabe Nr. 52, 1988, Wikipedia.org: https://de.wikipedia.org/wiki/Theodor_Av%C3%A9-Lallemant.
Fotos:
Brahms handschriftlicher Brief: Foto der Kopie, die Herr Zapf aus Berlin bekommen hat.
Brahms um 1855: https://de.wikipedia.org/wiki/Johannes_Brahms
Theodor Avé-Lallemant habe ich hier her (ebenso gemeinfrei): https://de.wikipedia.org/wiki/Theodor_Av%C3%A9-Lallemant